Dokumentarfilm von Marcus Welsch - 86 Minuten, 2009 16:9, HD
Der Film zeichnet ein Bild der Gegend Höri und der Hegau - dort, wo der Bodensee zum Rhein wird - jenseits des touristischen Blicks. Die Grenzregion ist seit Jahrhunderten ein Flucht- und Zufluchtsort. Ein Auffangbecken von Biografien, die unterschiedlicher nicht sein können. Der Film versucht die Wechselwirkung zwischen Landschaft und Biografie zu begreifen. Dabei geht es weniger um Zeitzeugenschaft, wie man sie aus den gängigen History-TV-Formaten kennt.
"Landschaftsgeschichten" nimmt vor allem die Menschen ernst und beobachtet ihre Lebensweise, ihre Wünsche und Träume, vor allem aber ihren Umgang mit der Landschaft.
Marcus Welschs großartiger Dokumentarfilm über Höri und Hegau
Ein Titel von ergreifender Schlichtheit: Ganz bescheiden Landschaftsgeschichten hat der gebürtige Singener Marcus Welsch seinen zweiten Dokumentarfilm genannt. Genau genommen heißt das Werk Landschafts Geschichten , und das ist Programm, denn um nichts anderes geht es: um Menschen aus dem Hegau und die Geschichten, die sie erzählen; um die Zeitgeschichte, die sich nach und nach wie ein Mosaik aus vielen Bruchstücken zusammensetzt; und um eine der schönsten Gegenden Deutschlands. In seinem Dokumentardebüt über die populäre DDR-Volleyballspielerin Katharina Bullin ( Und ich dachte, ich wär' die Größte ) hatte sich Welsch noch auf eine Hauptfigur konzentriert. Hier sind es gleich neun Personen; und trotzdem hat man nach nicht mal neunzig Minuten das Gefühl, sie alle recht gut kennen gelernt zu haben. Die Auswahl der Gesprächspartner belegt Welschs ausgezeichnetes Gespür. Dass sie viel erlebt und entsprechend viel zu erzählen haben, stand außer Frage; aber er musste sich ja auch sicher sein, dass sie nicht nur ihn, sondern auch ein Publikum faszinieren würden. Allerdings konnte sich der heute in Berlin lebende Filmemacher auf einen Verbündeten verlassen: Ohne den Bodensee würde der Film vermutlich gar nicht funktionieren. Die Aufnahmen der Region sind so prachtvoll, dass die Bildgestaltung ähnlich schlicht ausfällt wie der Titel. Meist ist die Kamera (Axel Schneppat, Stefan Grandinetti) völlig reglos und schaut bloß; Welsch verleiht dem Begriff Stillleben eine ganz neue Bedeutung. Ähnlich sparsam ist der Kommentar. Sachlich, aber in angenehmem Tonfall schildert Sprecher Christoph Köhler, wie die Landschaft rund um Singen mit ihren markanten Bergen während der Eiszeit entstanden ist und wie wandernde Gletscher riesige Findlinge zurückgelassen haben. Die Ausführungen sind nicht nur interessant und informativ, sondern bilden gemeinsam mit dem Seeufer die Bühne für Welschs Protagonisten; und die sind der Grund, warum Landschaftsgeschichten auch ein akustisches Erlebnis ist. Einige der zwei Frauen und sieben Männer genießen eine gewisse durchaus auch überregionale Prominenz, doch das ist nicht entscheidend. Natürlich hat es seinen Reiz, wenn sich Jan Dix an seinen berühmten Vater erinnert; oder wenn Wolfgang Seliger aus erster Hand berichtet, wie er als Polizist im Mai 1977 in Singen die unheilvolle Begegnung mit den Terroristen Verena Becker und Günter Sonnenberg überlebt hat. Bei Welsch firmiert Dix jedoch als Der Einsiedler und Seliger als Der Radsportler , ihre Namen tauchen gar nicht auf. Der Stellenwert der beiden Männer ist nicht größer als der des 87-jährigen Hans Hassler ( Der Pferdeflüsterer ), dessen Erzählungen mit Untertiteln versehen sind, weil ihnen sonst nur die Einheimischen folgen könnten. Welsch wollte mit seinem Film die Wechselwirkungen zwischen einer Landschaft und ihren Bewohnern erforschen. Das klingt ebenso theoretisch wie abstrakt, und auch seine Erläuterung hilft zunächst nicht weiter: Mit dem Blick in die Landschaft verändert sich die Erzählung, und mit den erzählten Biografien verändert sich die Landschaft. Dabei ist dieser Satz die perfekte Beschreibung des Prozesses, der sich unmerklich vollzieht, während man den Film betrachtet, sich den Aufnahmen hingibt und den Menschen lauscht: Weil es in den Berichten und Erinnerungen immer wieder um die Region geht und man daher ständig neue Blickwinkel einnimmt, wandeln sich die Bilder, die man im Kopf hat. Und weil der zugezogene Frankfurter ( Der Stadtflüchtling ) zwangsläufig eine ganz andere Perspektive auf Land und Leute hat als beispielsweise die Tochter eines jüdischen Arztes, verändert sich auch der Blick auf die Landschaft.
Tillmann. P. Gangloff, Südkurier, 8.1.2011