Kino /TV: 65 min. | farbe | mono | berlin 2020
Kompilation VHS -> digital 2020
1984. Ein Jahr, für das Orwell nichts Gutes prophezeite. Und er hatte Recht!
Das Kollektivmitglied der Medienwerkstatt Freiburg Didi Danquart sowie der Autor und Liedermacher Walter Moßmann stellen dennoch ihren aktuellen Dokumentarfilm Exilio (über ein salvadorianisches Flüchtlingslager in Honduras, in dem auch verwundete Guerillakämpfer versteckt gepflegt wurden) im Freiburger Kommunalen Kino vor.
Bei der anschließenden Diskussion taucht die Frage auf, warum wir als westdeutsche Linke beim Thema Guerilla und bewaffneter Widerstand in der Regel auf weit entfernte Guerilla-bewegungen zurückgreifen. Spätestens seit Anfang der 70er Jahre existiert auch hier in der BRD – wenn auch reduziert auf kleine ideologisch unterschiedlich orientierte Gruppen – ein organisierter militanter und bewaffneter Widerstand.
Warum gibt es bei uns – neben all den anderen radikalen, gegenöffentlichen Videoarbeiten aus den linken Medienzentren (wie Häuserkampf, Emanzipationsbewegung etc.) keine solidarische filmische Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen und Ansätzen revolutionären Widerstands in der Metropole? Warum überlassen wir dieses wichtige Feld den bürgerlichen und konterrevolutionären Medien?
Die aus der 68er-Bewegung entstandenen bewaffneten Gruppen sehen sich zunächst als einen Teil der antikapitalistischen Linken, an die sie sich mit ihren programmatischen Konzepten und Kommandoerklärungen richten. Sie selbst verstehen sich einerseits als deren radikalsten Flügel, vertreten aber innerhalb der verschiedenen ideologischen Strömungen antagonistische militante Theorien.
Spätestens seit Beginn der 70er Jahre sympathisiert andererseits auch ein Großteil der unbewaffneten Linken noch mit den ersten Aktionen und Ansätzen der Stadtguerilla, auch wenn die Meinungen sich häufig an der Gewaltfrage scheiden.
Nach den ersten Verhaftungen, dem rasanten Ausbau des polizeilichen Überwachungs- und Repressionsstaates, sowie der politischen Neuorientierung verschiedener Teile der Linken (z. B. die eher pazifistische Friedens- und Ökobewegung) bröckelt das Verständnis des gemeinsamen Kampfes.
Vertieft wird diese sich auftuende Kluft durch eine immer dogmatischere Sprache der Kommandoerklärungen, vor allem der RAF, und der sie unterstützenden antiimperialistischen Gruppen, die von der Linken bedingungslose Solidarität mit den unter mörderischen Isolationshaftbedingungen einsitzenden Gefangenen einfordern.
Mitte der 70er Jahre verschieben sich die Ziele von RAF und Bewegung 2. Juni in Richtung Gefangenenbefreiung, was zu weiterer Kritik und Entfernung von der legalen linken Bewegung führt.
Lediglich der Großteil der Revolutionären Zellen und der Roten Zora handelt zu dem Zeitpunkt im Zusammenhang mit den verschiedenen Konfliktfeldern der sozialen Bewegung.
Im Dezember 1984 treten die Gefangenen der RAF in den 9. Hungerstreik für Zusammenlegung in große Gruppen und Haftbedingungen nach der Genfer Konvention für Kriegsgefangene. In ihrer Erklärung beziehen sie sich nicht mehr auf die westdeutsche Linke, sondern auf die anderen bewaffneten Gruppen in Westeuropa. Damit wird erneut die anstehende Diskussion innerhalb der BRD-Linken zur grundsätzlichen Auseinandersetzung und Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte incl. der bewaffneten Gruppen weggeschoben.
Die Mitglieder des Medienwerkstatt-Kollektivs, Didi Danquart und Michael „Mike“ Schlömer, sind grundsätzlich interessiert, sich dieser Herausforderung zu stellen und wollen den Versuch wagen, einen filmischen Diskurs zur „Geschichte des bewaffneten Widerstandes in Deutschland“ zu erarbeiten. Die Idee dahinter ist, die verfahrenen Positionierungen der einzelnen Fraktionen innerhalb der Bewegung in eine gemeinsame Diskussion zu bringen und die visuelle Historiographie als gemeinsame Grundlage den nachfolgenden Generationen und den aktuellen Flügelkämpfen allgemein zur Verfügung zu stellen.
Gemeinsam mit zwei ehemaligen Gefangenen aus Berlin, Harry Stürmer und Detlef „Dätta“ Schäfer aus dem Umfeld der Bewegung 2. Juni, beginnen wir mit der Arbeit, diskutieren die prinzipielle Vorgehensweise und erstellen ein erstes Exposé.
Bei einem Arbeitstreffen in Hamburg stoßen wir auf ein Artur-Poster und einigen uns, inspiriert von Text und Foto, auf den Arbeitstitel „Projekt Artur – lebe wild und gefährlich“.
Erste Aufgaben werden verteilt und in Angriff genommen:
– Recherche und Systematisierung in verschiedenen Zeitungs- und Verlagsarchiven und linken Publikationen, wie z. B. taz, Arbeiterkampf, Konkret, Autonomie etc. (das Internet existiert bekanntlich erst mit der Einführung des World Wide Web im Jahr 1990); und es beginnt eine Zusammenarbeit mit dem Geschichtsflügel der Reemtsma-Stiftung, dem Hamburger Institut für Sozialforschung unter der Leitung des linken Arztes und Historikers Karl-Heinz „Carlo“ Roth.
– Parallel dazu Recherche und Sichtung von historischem und aktuellem Filmmaterial (Filmarchiv Koblenz, TV-Archive und Material von engagierten Regisseurinnen und Kameramenschen, wie z. B. Thomas Giefer: Filmmaterial zum Schah-Besuch; Harun Farocki: Vietnam, Studentenbewegung; Gerd Conradt: Filmmaterial zu Holger Meins, Astrid Proll; dffb: Philip Sauber u. v. a. m.).innen wie der Filmemacherin Margit Czenki, dem Berliner Szene-Wirt Hansi Scharbach, dem von der Bewegung 2. Juni befreiten Münchener Anarchisten Rolf Pohle oder dem Schriftsteller Christian Geissler, um nur einige zu nennen.
– Wir aktualisieren das Konzept – sukzessive den Rechercheergebnissen folgend – zu einem nach außen vertretbaren Treatment und beginnen mit der Kontaktaufnahme von potentiellen Interviewpartner*innen aus der Guerilla und deren Umfeld.
Die Suche nach involvierten Personen, also Menschen, die Mitglieder oder Teil einer der oben aufgeführten Gruppierungen sind, und bereit, vor der Kamera in Interviews über ihre Erfahrungen und Zielvorstellungen zu berichten, stellt sich erwartungsgemäß als extrem schwierig heraus.
Die bewaffneten Gruppen RAF, Revolutionäre Zellen und Rote Zora sind zum Zeitpunkt der Filmarbeiten weiter im Untergrund aktiv und deshalb für uns nicht kontaktier- bzw. erreich-bar.
Lediglich der 2. Juni ist nicht mehr dabei. Die Frauen aus dieser Gruppe hatten am 2. Juni 1980 die „Auflösung der Bewegung“ und ihren Übertritt zur RAF erklärt und sind weiterhin im Untergrund oder im Knast, während die anders denkenden Männer allesamt einsitzen.
Überraschenderweise lehnen aber auch die männlichen Gefangenen der Bewegung 2. Juni – allerdings mit unterschiedlichen Beweggründen – eine Mitarbeit an „unserem“ Filmprojekt ab.
Einige von ihnen möchten statt eines Films lieber einen selbstkritischen Kongress à la Tupamaros, der international beliebten Stadtguerilla der Nationalen Befreiungsbewegung in Uruguay, die 1985 als politische Partei Frente Amplio legalisiert wurde.
Andere vermissen ein Mandat der Filmemacher für die Aufarbeitung der Guerillabewegung und kritisieren massiv die Beantragung von finanzieller (Staats-) Förderung.
Von der Bewegung 2. Juni erklärt sich lediglich Norbert „Knofo“ Kröcher, der sich nach seiner Zeit hinter „schwedischen Gardinen“ in Skandinavien und der BRD wieder auf freiem Fuß befindet, zu Gesprächen mit uns bereit. Im Vorfeld der Dreharbeiten sichern wir ihm – wie später auch allen anderen Beteiligten – ein Vetorecht nach persönlicher Abnahme des fertigen Bildschnittes (Picture lock) zu.
Im Nachhinein mag das politisch und medienrechtlich als – zumindest – unachtsam und fahrlässig erscheinen. Wir glaubten uns zu dem Zeitpunkt aber – naiverweise – eingebunden in ein gemeinsames solidarisches Bemühen der Linken zur Erstellung dieser Arbeit als Grundlage für weitere inhaltliche Diskussionen zu einer politischen Konsensfindung.
Von der RAF erklären sich letztlich nach langem Bemühen und vielen vertrauensvollen Gesprächen zwei ehemals gefangene Frauen aus der Gründungsphase, Irene Goergens und Brigitte Asdonk, zur aktiven und offenen Mitarbeit bereit.
Gerd Albartus und Enno Schwall, zwei Genossen, die für Aktivitäten im Zusammenhang mit der RZ verurteilt, inzwischen aber wieder auf freiem Fuß sind, sind ebenfalls zur Mitarbeit bereit (wobei Gerd später aus nie erklärten Gründen seine Zusage zurückzieht).
Und last but not least erklären Anwälte, ein engagierter Freiburger Maler (Harald Herrmann), andere militante Aktivisten (z. B. von der Startbahn West), sowie der Berliner Universitätsprofessor und Gerichtsmediziner Prof. Dr. Wilfried Rasch (der für die Verteidigung im Stammheim-Prozess ein Gutachten zur Notwendigkeit der Zusammenlegung in interaktionsfähige Gruppen verfasst hatte) ihre grundsätzliche Bereitschaft, an dem Projekt mitzuwirken.
Eine besondere Bedeutung messen wir dabei dem Aktivisten Carlo Roth zu, der mit seinen Autonomie-Theorien und seinen eigenen Knasterfahrungen maßgeblich den filmischen und strategischen Überbau – auch als ein führender Vertreter des Operaismus – besetzen sollte.
1986 beginnen wir mit den Dreharbeiten.
1987 legen wir, nach einer monatelangen, anstrengenden und auch unter uns vieren inhaltlich hart umkämpften Zeit, eine erste ansehbare Videofassung (Rough cut) von „Projekt Artur“ den beiden beteiligten Frauen aus der RAF vor. Wir wollten und brauchten Feedback zum inhaltlichen Aufbau ihrer Geschichte und – natürlich – ihre Zustimmung zur montierten Aussage ihrer Aufnahmen.
Grundsätzlich sind beide Frauen erst einmal mit ihrer eigenen Darstellung der RAF-Historie einverstanden, ja sogar zufrieden. Bei der anschließenden Diskussion über die Inhalte des Gesamtrohschnitts zu den anderen Gruppen und der gesamten Bewegung holen sie sich – mit unserer Zustimmung – Unterstützung von einem ausgewählten Kreis von „Vertrauens-personen“ aus dem legalen antiimperialistischen Umfeld in Berlin.
Statt der erhofften Zustimmung prasselt allerdings eine Lawine von Detailkritik auf uns nieder. Am meisten entzündet und fokussiert sich die – auch grundsätzliche – Filmkritik an der anarchistischen „Sponti-Haltung“ und der besonderen Ausdrucksweise von Knofo. Auf ihn, der sein ganzes Leben radikal der freiheitlichen (anarchistischen) Idee unterordnete, schießen sich die „antiimperialistischen Kämpfer*innen“ ein:
- Seine Macho-Haltung sei widerwärtig …
- wie er bekifft im Sessel sitzt und über Vietnam redet …
- die Darstellung seiner (persönlichen) Probleme mit der Illegalität …
- sein Hang zur Selbstdarstellung …
- er sei nicht repräsentativ für den 2. Juni …
- man könne unmöglich die seriösen Aussagen der Frauen aus der RAF mit den flippigen
Aussagen Knofos zusammenschneiden …und vieles andere mehr.
Das selbsternannte „Tribunal“ um die beiden RAF-Frauen, kommt schließlich zu der finalen Erkenntnis: „Knofo muss raus – oder wir ziehen unsere Teilnahme an dem Projekt zurück!“
Die Idee, einen gemeinsamen politischen Diskurs mittels einer neuen medialen Kommunikationsform zu führen, ist gescheitert.
Das „Projekt Artur“ ist gescheitert!
Denn was wäre die filmische Geschichte dieses militanten Kampfes, wenn ein wesentlicher Teil davon nicht mehr vorkommt? Egal ob es sich um die RAF handelt, den 2. Juni oder die Revolutionären Zellen bzw. Rote Zora?
Den antiimperialistischen Kritiker*innen ging es nicht mehr um unseren – mittlerweile über zweijährigen – Versuch, eine eigene, subjektive, aber durchaus selbstkritische visuelle Geschichte des bewaffneten Kampfes in der jüngeren Nachkriegsgeschichte Deutschlands zu zeichnen, die als Diskussionsgrundlage für alle späteren Generationen hätte dienen können. Und auch nicht darum, dass mit dem Ergebnis des Projekts vielleicht auch den damaligen „militaristischen“ Solidarisierungskampagnen im sogenannten RAF-Umfeld vernünftige (Gegen-) Argumente zur Unterstützungsarbeit der Gefangen in den Hochsicherheitstrakten angeboten worden wären. Vielleicht wäre sogar die Geschichte der kommenden Hunger-streiks und vieles andere mehr in diesem Land anders verlaufen …
Nach Überwindung unserer frustrierten Empörung über die zwei langen Jahre nun ergebnisloser Arbeit beschließen wir einen „Rest-Artur“ zu konzipieren, der den Zeitraum des militanten Aufbruchs (1968) bis hin zur Gründung der libertär-sozialistischen Bewegung 2. Juni Anfang 1972 umfassen sollte. Zumindest dieses – die Entstehungsgeschichte des bewaffneten Widerstandes – wollen wir öffentlich machen, auch um dieser ignoranten Entsolidarisierung einer kleinen fundamentalistischen Clique etwas Konstruktives entgegenzusetzen.
Der 72 Minuten lange Dokumentarfilm Projekt Arthur – die Gewaltfrage 1968 hatte sein Release im Internationalen Forum des Jungen Films auf der 38. Berlinale und ist auch heute noch über die Medienwerkstatt (MWF, Konradstraße 20, 79100 Freiburg bzw. medienwerkstatt-freiburg.de) zu beziehen.
Knofo ist darin mit 11 Minuten (Filmzeit) vertreten, obwohl wir mit ihm mehr als 5 Stunden Gespräch aufgezeichnet haben. Darin berichtet er über ca. 25 Jahre (Erzählzeit) persönlich erlebter Geschichte. Wir drehten mit ihm an vier verschiedenen Orten in Berlin, auch um thematische Trennungen vorzunehmen:
- Bei ihm zu Hause, wo er über seine eigene Politisierung, die Kontakte zur Studentenbewegung und die ersten Aktionen der „Haschrebellen“ spricht.
- In der Besetzerkneipe Pinox geht es dann chronologisch weiter bis zum Zusammenschluss der verschiedenen kleinen militanten anarchistischen Gruppierungen in Berlin zur Bewegung 2. Juni.
- Im Taxi beschreibt er seine persönlichen Probleme und Erfahrungen mit der Illegalität.
- Und zuletzt, auf dem Dach des besetzten Kulturzentrums Kuckuck, geht es um die Haftbedingungen und den Knastalltag.
In seinem Nachlass hat Knofo – als ordentlicher Anarchist – eine schlechte VHS-Kopie des gesamten mit ihm aufgezeichneten Materials hinterlassen. Daraus legen wir hier einen ca. 60-minütigen Zusammenschnitt als DVD-Dokument bei, der in seiner qualitativen Rauheit und seiner sprunghaften Historie – ihm wohl sehr gefallen hätte.
Ein helles blechernes Lachen wird es sein, was er uns aus dem Jenseits zurufen würde, wenn er könnte …
Didi Danquart & Harry Stürmer (Berlin & Donostia, 2020)