Es ist nicht unsere Aufgabe, in dieser Welt erfolgreich zu sein, sondern weiterhin frohen Mutes zu scheitern.
Alfons Limbrunner
Eine badische Geschichte
Mitten durch den Schwarzwald soll eine neue Straße gebaut werden. Während allerorten darüber diskutiert und gestritten wird, kommt es in einem Landgasthof, der gnadenlos den täglichen Staus ausgeliefert ist, zu Streitereien unter den Mitgliedern der Betreiberfamilie. Draußen vor ihrer Tür verwandelt sich das einstige Idyll in einen chaotischen Treffpunkt von lärmenden Städtern, weitgereistem Fernfahrervolk und ambitionierten Staupolizisten. Komödie mit ins Surreale gesteigerten satirischen Ansätzen.
Die letzte Filmarbeit des am 29.8.1995 33jährig verstorbenen Thomas Strittmatter.
von didi danquart
1.
„das gefüge meiner figuren ist im gleichgewicht, da kannst du nicht einfach eine streichen!“, sagt er zornig, während er mir sachkundig kritisch beim rotkohl schneiden über die schultern blickt. auch beim rohen kraut durfte eine gewisse feingliedrigkeit beim schnitt nicht durch grobes verunziert werden. „cechov hat einmal gesagt, wenn du ein gewehr an der wand zeigst, mußt du es auch irgendwann schießen lassen !“, sagt er etwas beruhigter durch meine rotkraut-schneide-kunst, dennoch immer noch wütend über meinen vorschlag, die figur mercedes nur als tonbandstimme auftauchen zu lassen, hantiert thomas in seiner trotz allem gelassenen langsamkeit am küchenbrett. er ist heute 33 jahre alt geworden und es gibt für die eingeladenen freunde zanderfilet in einer limonensauce, kartoffelpürree durchsetzt mit ein paar tropfen feinsten trüffelöls und - feingeschnittenes - rotkraut mit frischem ingwer. wir besprechen die dritte drehbuchfassung während der vorarbeiten zum geburtstagsmenü, und die rinderbrühe brodelt schon zwei stunden lang auf dem herd ihrer fertigstellung entgegen.
die küche ist der beste ort und das kochen die beste zeit für ein kritisches arbeitsgespräch mit thomas strittmatter.
in unserer badischen geschichte bohai bohau fährt u.a. ein schweinetransporter mit einer arbeitslosen biologin am steuer von moskau nach madrid. aus madrid kommt wiederum ein schweinelaster, der sich auf dem weg nach moskau befindetund bei freiburg in den täglichen stau der B31 gerät. oscar, fahrer des lkws und verlobter einer heißblütig eifersüchtigen argentinierin namens mercedes, sieht den mittlerweile ebenfalls im schwarzwälder stau gelandeten russen-lkw am straßenrand stehen und sagt zu seinem neuen badischen freund gerald: „oh, ein kollege aus moskau. da muß ich hin! nach moskau! a moscow!“. gerald, der außer den quickenden schweinen niemanden beim lkw erblickt, antwortet lapidar: „keiner da!“.
thomas grinst, während er das ausgeflockte eiweiß aus der rinderbrühe abschöpft. typisch thomas, denke ich. immer wieder findet man in seinen figuren eine cechovsche verbeugung (1).
am schluß des filmes werden ein afrikanischer insektenforscher, eine schwäbische kauffrau, russische und spanische liebespaare, eine badische familie, zwei hungrige polizisten, viele schweine und ein hummer vereint - bei nierle in cognac-sauce mit brägele - in einem schwarzwälder wirtshaus sitzen.
es ist mittlerweile 22.oo uhr, die freunde werden bald eintreffen. wir öffnen die erste flasche des kalifornischen rotweines zinfandel, die er bei einer lesung in der vineria franzotti als honorar ausgehandelt hatte. „eigentlich ist es beim film wie beim theater. solange die figuren ihre eigene wirklichkeit behaupten können, ist ort und zeit der geschichte keiner logik mehr unterworfen. die glaubwürdigkeit der behaupteten wirklichkeit ist das wichtigste in meinen geschichten.“ beim leeren der ersten flasche zinfandel fällt mir wieder ein satz des schriftstellers joseph roth ein, den wir beide sehr schätzen: „es war einfach ein wunder und innerhalb des wunders gibt es nichts verwunderliches“. (2) so ähnlich ist es auch mit den geschichten, die thomas schreibt.
2.
am 29.08.1995, wenige monate nach den dreharbeiten zu bohai bohau ist thomas strittmatter, 33 jahre jung, an einem kranken herzen gestorben. meine frische freundschaft mit ihm hat nur 15 monate gedauert, dann ging er für immer in eine andere welt und hinterließ bei mir zum erstenmal ein so schmerzliches verlustgefühl, das wir allgemein trauer nennen.
aus dieser trauer heraus begann ich einige wochen später mit einer drehbucharbeit, in welchem ich sein erstes theaterstück (dass er als 17 jähriger schüler geschrieben hat) für einen kinospielfilm transponierte. das stück hieß: viehjud levi.
dieses drama dauerte in seiner originalfassung ca. 40 minuten und hatte drei schauspielerInnen als protagonisten. meine co-autorin und ich erhöhten die figuren auf vierzehn und ich erzählte den film später mit großem (internationalen) erfolg in 97 minuten.
das überraschende bei dieser (trauer)arbeit aber war für mich, dass die gleiche mitteilung, nämlich ein kleines stück biographischer, subjektiver wahrheit eines begnadeten autors, in seinem stück wie in meinem spielfilm gleichsam vermittelt wurde! das war verblüffend!
und wieder wurde ich erinnert an seinen ausspruch: „… die glaub-würdigkeit der behaupteten wirklichkeit ist das wichtigste in meinen geschichten.“ thomas hat mir damit (un)gewollt etwas beigebracht, was ich bis zu diesem zeitpunkt nur dem dokumentarischen künstler zugestanden habe, der mit seiner kamera wirklichkeitsbilder sammelt und später - am schneidetisch - zu einer erlebten, wahrhaften geschichte montieren kann.
dass sich aber auch erlebte erfahrung in einer konstruierten geschichte widerspiegeln kann, so dass diese beliebig mit drei oder eben mit vierzehn figuren erzählbar ist; im schwarzwald oder im odenwald; konform oder nonkonform, avantgardistisch oder konventionell gedreht, ist mein persönlicher gewinn aus der arbeit an dem drama viehjud levi von thomas strittmatter.
„ … die objektive welt, die welt als vorstellung, ist nicht die einzige, sondern nur die eine, gleichsam die äußere seite der welt, welche noch eine ganz und gar andere seite hat, die ihr innerstes wesen, ihr kern, das „ding an sich“ ist: … (der) wille. (3)
3.
thomas grundsätzliches mißtrauen den sogenannten „scriptdoctors“ (d.h. die dramaturgen der filmbranche) gegenüber, bestätigte sich für mich auch im nachhinein in dieser erkenntnis. denn nicht die formalen gesetze einer filmischen struktur sind wirklich ausschlaggebend für gute filme, sondern die wahrhaftigkeit, das authentische der geschichte. der rest ist maniküre oder mainstream.
niemals hätte er einen (film)dramaturgen für seine geschichten zu rate gezogen und in den wenigen fällen, wo sie es taten stiessen sie auf einen unwilligen, mürrischen menschen.
strittmatter behielt seine geschichten wochenlang, ja gar monatelang in seinem kopf, bevor er sie dann in wenigen tagen - fast druckreif - zu papier brachte. dazwischen lag er, die hände hinter dem kopf verschränkt auf seinem bett oder bekochte in seiner gut einge-richteten küche die eingeladenen freunde.
in dem aphorismenband nachts von karls kraus habe ich folgendes zitat gefunden, mit welchem ich - und sicher auch thomas strittmatter - den eigenen künstlerischen ausdruck definiert sehe/n: „adolf loos und ich, er wörtlich und ich sprachlich, haben nichts weiter getan als gezeigt, dass zwischen einer urne und einem nachttopf ein unterschied ist und das in diesem unterschied erst die kultur spielraum hat. die anderen aber, die positiven, teilen sich in solche, die die urne als nachttopf, und die den nachttopf als urne gebrauchen.“ (4)
der unterschied zwischen einem nachttopf und einer urne ist in in unserer zeit des neoliberalistischen denkens eine geistige und deshalb auch eine moralische angelegenheit. ich will damit sagen, dass es nachttopf- und/oder urnenfilme gibt. diese laufen in den cinemaxxen dieser welt; die wirklich künstlerischen arbeiten aber liegen im besagten unterschied und diese laufen in den sälen, wo der anspruch auf eine kulturell orientierte kinoarbeit das zentrum der filmauswahl ist, wie z.b. - wer hätte das gedacht - das gucklochkino in villingen-schwenningen.
zwei läufer laufen zeitentlang,
der eine dreist, der andere bang:
der von nirgendher sein ziel erwirbt;
der vom ursprung kommt und am wege stirbt.
der von nirgendher das ziel erwarb,
macht platz dem, der am wege starb.
und dieser, den es ewig bangt,
ist stets am ursprung angelangt. (5)
thomas strittmatter hat sein kurzes aber intensives leben sehr kompromislos dem unterschied gewidmet. in der höflichkeit seiner mitmenschen gegenüber, in seiner offenen neugierde, in seinen kochkünsten und seiner großen lust guten wein zu trinken; in seinen theaterstücken, seinen drehbüchern und in seiner prosa ist das nachzulesen.
anmerkungen:
(1) anton cechov reclam: „die drei schwestern“ ende 2.akt
irina (allein geblieben, voller sehnsucht):
„nach moskau will ich ! nach moskau ! nach moskau !“
(vorhang)
(2) joseph roth „das märchen vom geiger“ 1919 in: der neue tag.
(3) schopenhauer „die welt als wille und vorstellung“, s.36
(4) karl kraus werke III, s.341
(5) karl kraus werke III, s.283
freiburg, den 02.04.02
didi danquart